Besuch im Pflegeheim und 3. Zwangseinweisung

Ich besuchte Felix im Pflegeheim zusammen mit einem EX-IN Genesungsbegleiter (Infos zu EX-IN siehe hier), den ich engagiert habe, in der Hoffnung, dass er einen Kontakt zu Felix aufbauen und ihm vielleicht aufgrund seiner eigenen Erfahrung als Betroffener helfen kann.

Als wir in das Zwei-Bett-Zimmer kamen, stand Felix unbeweglich in der Mitte des Raumes und starrte aus dem Fenster. Er regte sich nicht, als wir ihn begrüßten. Er stand steif da, atmete sehr flach und kurz, ohne dass der Brustkorb sich bewegte. Seine Hände waren eiskalt und blau, er war extrem abgemagert, leichenblass und trug Hosenträger. Er hasst Hosenträger und hatte sie ganz sicher nicht selbst angezogen. In dem Schränkchen neben seinem Bett lag eine Windel, so nahm ich an, dass er auch eine Windel anhatte.

Ich stellte Felix und den Genesungsbegleiter einander vor und ließ die beiden allein. Im Flur begegnete ich dem Pflegedienstleiter des Heims, er bat mich zu einem Gespräch in sein Büro. Dort eröffnete er mir, zwei Stunden später sei ein Krankentransport in eine Klinik für Felix geplant. Er berichtete, Mitarbeiter des Heims hätten mehrfach mit dem zuständigen Amtsrichter und dem Sozialpsychiatrischen Dienst telefoniert. Beide würden eine Zwangseinweisung in eine psychiatrische Klinik befürworten. Notfalls könnten sie den Transport auch mit Unterstützung der Polizei durchsetzen, falls mein Sohn sich weigern würde, in den Krankenwagen einzusteigen.

Nach dem Gespräch ging ich zum Auto, um dort zu warten. Dabei durchquerte ich den Hof zwischen den drei Gebäuden des Heims, wo gerade Sommerfest war. Es waren Biertische, Bänke und Sonnenschirme aufgebaut. Etwa dreissig Senioren saßen wortlos an den Tischen und nahmen Kaffee und Kuchen zu sich. Ein Alleinunterhalter mit einem Keyboard stand dabei und bot Volkslieder mit Gesang dar.

Der Genesungsbegleiter kam irgendwann zum Auto und berichtete, er habe Felix keine einzige Reaktion entlocken können. Wir gingen zusammen wieder zurück in das Zimmer meines Sohnes, der immer noch – wie eine Statue – am selben Fleck vor dem Bett seines Zimmergenossen stand. Der Zimmergenosse, ein älterer, sehr schlanker, großer Herr mit grauen Haaren lag in seinem Bett. Er war nur mit weißer Unterwäsche bekleidet und hatte die Bettdecke zwischen seine Beine geklemmt, wie immer. Er berichtete uns, mein Sohn habe die ganze Nacht so unbeweglich auf immer demselben Fleck gestanden, er selbst sei mehrfach aufgewacht und hätte sich jedes Mal vor Felix erschrocken. Er fragte uns, ob wir ihn denn nun endlich mitnehmen würden, das sei ja eine Katastrophe, so könne es ja nicht weitergehen mit meinem Sohn.

Der Genesungsbegleiter und ich setzten uns aufs Bett. Wir sagten ein paar aufmunternde Sätze zu meinem Sohn, der immer noch keine Reaktion zeigte, sondern aus dem Fenster starrte. Der Zimmergenosse sagte, „ach, das hat doch alles keinen Sinn, das sieht man doch. Das wird nicht wieder gut. Sie sehen doch, dass es immer weiter bergab geht mit Felix, der erholt sich bestimmt nicht mehr.“ Es tat mir in der Seele weh, wie der Zimmernachbar über meinen Sohn als „hoffnungslosen Fall“ sprach, während mein Sohn genau vor ihm stand und alles hörte. Glücklicherweise gelang es mir, den Zimmergenossen zu stoppen. Ich sprach meinem Sohn weiter Mut zu, sagte ihm, dass ich an ihn glaube und dass er es schaffen kann, seine Krise zu überwinden. Manchmal glaubte ich eine Regung in Felix’s Gesichtsmuskulatur zu erkennen, während wir sprachen. Ich nahm eine der Flaschen mit Wasser vom Tisch und hielt sie Felix hin, ich sagte, „Felix, trink einen Schluck Wasser, trinken ist wichtig.“ Felix reagierte nicht. Ich sagte, „ich stelle die Flasche auf den Tisch, wenn Du Wasser trinken willst, nimmst du sie Dir, ja?“

Nach einiger Zeit waren Schritte auf dem Flur zu hören. Mein Sohn, der die ganze Zeit unbeweglich mit dem Rücken zur Tür dagestanden hatte, drehte mit einem Ruck den Kopf zur Tür und verharrte einen Moment so. Dann ging er mit wenigen schnellen Schritten zum Tisch vor dem Fenster, und nahm die Wasserflasche, die ich dort abgestellt hatte. Er schraubte sie auf und trank einen Schluck. Durch die Tür kamen eine Frau und ein Mann, die beiden Fahrer des angekündigten Krankentransportes. Sie schoben einen Rollstuhl herein, der Wohnbereichsleiter des Heims kam auch mit ins Zimmer. Sie erklärten meinem Sohn, er werde nun ins Krankenhaus gebracht. Mein Sohn stand da und sagte nichts. „Also Herr S., wenn Sie nicht jetzt nicht mitkommen, müssen wir die Polizei rufen.“ Man bat uns, den Genesungsbegleiter und mich, draußen zu warten. Kurz darauf kamen die beiden Krankentransportfahrer mit meinem Sohn im Rollstuhl sitzend zur Tür heraus. Mein Sohn wurde die Rampe heraufgefahren, über den Hof, vorbei an den Kuchen essenden Senioren. Der Alleinunterhalter spielte ein fröhliches Musikstück und versuchte gerade mit der Stimme, die Stimmung anzuheizen, er sang: „Komm lasst uns fröhlich sein, im schönsten Sonnenschein“. Der Rollstuhl mit meinem Sohn wurde in den Krankentransporter gehievt, mein Sohn saß mit dem Rücken zur Heckklappe des Wagens. Als einer der Fahrer sie schließen wollte, drehte sich mein Sohn ruckartig um, und sagte ganz klar und flüssig: „Kann bitte einer von Ihnen mit mir hier hinten im Wagen fahren, der Mann oder die Frau?“ Die beiden Fahrer waren zögerlich. Ich schlug vor, der Genesungsbegleiter könnte bei ihm hinten mitfahren, da ich ja mein Auto fahren musste, „nein, der nicht“, sagte Felix. Der Genesungsbegleiter fuhr trotzdem bei meinem Sohn mit und ich mit meinem Auto hinterher.

An der Klinik angekommen, gingen wir in die geschlossene Station des Krankenhauses, mein Sohn saß immer noch im Rollstuhl. An einem Glaskasten mit Pflegern darin wurde Felix gebeten, aufzustehen. Er reagierte nicht. Die beiden Fahrer versuchten etwa fünf Minuten lang mit Worten, meinen Sohn zum Aufstehen zu bewegen. Irgendwann streckte Felix seine Arme und Beine steif gespreizt nach vorne, stand aber nicht auf. Die beiden Fahrer fassten ihm unter die Arme und stellten ihn auf den Boden. Dort blieb er stehen, ohne einen Schritt zu gehen, mit noch immer blauen Händen, sein Gesicht blass-gräulich, die Hose war von den Hosenträgern ein Stück zu hoch gezogen. Er sagte kein Wort, hatte immer noch die Wasserflasche in der Hand, die er im Heim in die Hand genommen hatte. Eine Krankenschwester erklärte Felix, die müsse er jetzt abgeben, da auf der Station keine Flaschen erlaubt seien. Mein Sohn ließ sich die Flasche wortlos abnehmen, den Blick starr geradeaus gerichtet. Kurz darauf kam die Schwester zurück, sie hatte das Wasser in eine Plastikflasche umgefüllt und wollte diese meinem Sohn geben. Er nahm sie jedoch nicht an, woraufhin die Schwester die Flasche auf einen Stuhl stellte. Der Kopf meines Sohnes bewegte sich ruckartig zur Seite an die Wand, wo ein Bilderrahmen mit lauter Zeichnungen von Engeln hing, die mein Sohn lange betrachtete. So blieb er dann stehen, wie eine Puppe. Als wir gingen, stand Felix immer noch exakt so da. Als wir gerade gehen wollten, kam eine Ärztin und fragte mich, ob ich die Betreuerin sei oder ob ich ihre Telefonnummer hätte. Es stellte sich heraus, dass auf dem Einweisungspapier statt der Telefonnummer versehentlich die Faxnummer der Betreuerin eingetragen worden war. Ich gab der Ärztin die Telefonnummer und sie rief sogleich bei der Betreuerin an. Wir hörten die Ärztin sagen: „Ja, Sie sind also mit der Unterbringung einverstanden? Und Sie sind also mit der Zwangsbehandlung einverstanden?“ Danach verabschiedeten wir uns von meinem Sohn, der sich noch keinen Millimeter bewegt hatte.

Über Solina S.

Ich bin Mutter eines intelligenten, musikalisch begabten 21 Jahre alten Sohnes, bei dem mit 18 Jahren eine Psychose ausbrach.
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